Februar 2018

„Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann

Erscheinungsjahr: 2005, Rowohlt Verlag
Kategorie: Zeitloser Buchklassiker

 

„Man schaffe und entdecke, erwerbe Güter, finde Menschen, die man mehr liebe als sein Leben, zeuge Kinder, vielleicht kluge, vielleicht auch idiotische, sehe den Menschen, den man liebe, sterben, werde alt und dumm, erkranke und gehe unter die Erde. Man meine man habe alles selbst entschieden. Erst die Mathematik zeige einem, daß man immer die breiten Pfade genommen habe. Despotie, wenn er das schon höre!“ Fürsten seien auch nur arme Schweine, die lebten, litten und stürben wie alle anderen. Die wahren Tyrannen seien die Naturgesetze.“ (Kehlmann, Die Vermessung der Welt, 2005, Rowohlt, S. 219f)

Handlung

AlexanderVonHumbolt BSNH 1930

Alexander von Humboldt

Ein fiktionaler-historischer Roman, der die angeblichen Lebensgeschichten von Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß erzählt. Kehlmann beschreibt die Zeit, die der Naturforscher Humboldt als Weltentdecker auf Reisen ist, wie er Pflanzen, Steine, Tiere und sogar Leichen für die naturwissenschaftliche Forschung zu Hause sammelt, alles akribisch misst und natürlich dokumentiert. Daneben erfährt man einiges vom „privaten“ Humboldt, der die Wissenschaft liebt, sich den Frauen entsagt und für die damalige Zeit sehr fortschrittlich und humanistisch denkt, in dem er z.B. Sklaverei verteufelt.

 

Carl Friedrich Gauss

Carl Friedrich Gauss

Der Mathematiker und Geodät Carl Friedrich Gauß wird von Kehlmann dagegen als ein Mensch gezeigt, der nicht gerne auf Reisen geht und meint, die Welt kann am besten am Schreibtisch erforscht werden. Von ihm erfährt man, wie er als Kind schon angesehen Mathematik Professoren in den Schatten stellt und mit 18 Jahren die Grundlagen der Ausgleichsrechnung und der mathematischen Statistik revolutioniert. Mit 24 Jahren schreibt er seine erste wissenschaftliche Arbeit, die ihn über die Grenzen bekannt machte. Auch über ihn erfährt man vieles aus seinem Privatleben, z.B. wie sehr er seine Frau Johanna liebt, wie wenig er mit seinen Kindern anfangen kann und wie schwer es für ihn ist mit den engstirnigen Menschen seiner Umgebung und gesellschaftlichen Höflichkeitsformeln klar zu kommen.

Interessant sind auch die Lebensgeschichten der Nebenfiguren. Oftmals liest man weiter, weil man eigentlich wissen will, was nun mit Eugen, dem inhaftierten Sohn von Gauß, passiert oder wie Humboldts Bruder Wilhelm das Staats- und Schulsystem umkrempelt.

Charaktere

Interessant ist die Charakterzeichnung und vor allem die Entwicklung beider Figuren – beide Charaktere werden als Eigenbrötler beschrieben, die anfangs nicht mal einander mögen, sich aber später lange Briefe schreiben und in Gedanken Unterhaltungen führen. Humboldt und Gauß sind beide sehr direkte Menschen und damit auch oft verletzend, man könnte sogar sagen, sie sind teilweise sozialinkompatibel.

In ihren jungen Jahren erscheinen beide noch energiegeladen. Sie denken, sie können mit ihrer Intelligenz die Welt besiegen und sie kennen ihre geistige Überlegenheit gegenüber anderen, was sie auch arrogant erscheinen lässt. Später, im Alter merken sie, dass auch sie keine Superhelden sind. Sie haben zwar immer noch überhebliche Gedanken und werden für ihre Verdienste auch immer noch wertgeschätzt, aber ebenso werden sie von der jüngeren Generation nicht mehr ganz ernst genommen und sogar bevormundet. Auch sie erfahren den Generationskonflikt. Humboldt und Gauß waren zwar die Wegebereiter, mit deren Wissen neue Vermessungsmethoden erstellt werden konnten, aber mit neuer Technik, kommen sie nicht mehr klar.

„Bei Nischnij Nowgorod bestimmte er mit dem Sextanten die Breite der Wolga. Eine halbe Stunde starrte er durch das Okular, schwenkte die Alhidade, murmelte Berechnungen. Die Mitreisenden sahen respektvoll zu. Das sei, sagte Wolodin zu Rose, als erlebte man eine Reise in der Zeit, als wäre man in ein Geschichtsbuch versetzt, so erhaben sei es. Ihm sei zum Weinen!

Endlich verkündete Humboldt, daß der Fluß fünftausendzweihundertvierzig Komma sieben Fuß breit sei. Aber natürlich, sagte Rose begütigend. Zweihundervierzig Komme neun, um genau zu sein, sagte Ehrenberg. Doch müsse er zugeben, angesichts einer so alten Methode ein ziemlich gutes Ergebnis.“ (Kehlmann, Die Vermessung der Welt, 2005, Rowohlt, S. 275f)

Stil

Kehlmann hat einen klaren, stringenten Schreibstil, gespickt mit amüsanten Wortwechseln und etwas Ironie. So wird beispielsweise im Buch mehrmals erwähnt, dass der Botaniker Bonpland die Forschungseise mit Humboldt gemeinsam macht und ebenso Proben sammelt, aber stets nur Humboldt als großer Entdecker genannt wird.

Oder hier, ein schönes Beispiel für die Selbstironie des Autors:

„Künstler vergessen zu leicht ihre Aufgabe: das Vorzeigen dessen was sei. Künstler hielten Abweichungen für eine Stärke, aber Erfundenes verwirre die Menschen, Stilisierung verfälsche die Welt. Bühnenbilder etwa, die nicht verbergen wollen, daß sie aus Pappe seien, englische Gemälde, deren Hintergrund in Ölsauce verschwimmen, Romane, die sich in Lügenmärchen verlören, weil der Verfasser seine Flausen an die Namen geschichtlicher Personen binde.“ (Kehlmann, Die Vermessung der Welt, 2005, Rowohlt, S. 221)

Fazit

Das Buch ist nicht nur etwas für Wissenschaftsfans, die neben Sachbüchern auch gerne mal einen Roman lesen wollen. Man kann „Die Vermessung der Welt“ ebenfalls genießen, wenn man keine Ahnung von Mathematik, Geologie oder Astronomie hat. Das Buch zeigt auf unterhaltsame Weise wie Wissenschaft früher funktioniert haben kann und egal wie schlau man ist, dass man auch nur altert, wie alle anderen auch. Wichtig ist aber, dass man immer im Kopf hat, dass das Werk ein Roman ist, keine Biografie. Es ist alleine Kehlmanns Interpretation der Lebensgeschichten und hat trotz biografische Überschneidungen keinen Wahrheitsanspruch. Dadurch macht das Buch aber definitiv Lust sich mit den wirklichen Biografien der Wissenschaftler zu beschäftigen.