November 2018

Die schöne Schlafende von Robert Coover

Kategorie: Für alle, die nicht mehr auf ihren Prinzen warten … warten wollen
Verlag: Rowohlt Verlag, 1999

Das Märchen von Dornröschen ist wohl eines der bekanntesten Märchen. Dank der Brüder Grimm ist eine sehr harmlose Version der 100 Jahre schlafenden Königstochter bekannt, die dank eines mutigen Prinzen von ihrem Fluch erlöst wird.

Doch Märchen waren nicht immer die Hausmärchen, die wir heute kennen und frühere Versionen des Märchens haben einen ganz anderen, nicht so harmonischen Ausgang. Die nicht zensierten Ur-Versionen, von z. B. Giambattista Basil „Sonne, Mond, Thalia“ oder Charles Perraults „La belle au bois dormant“, beschreiben grausame Tode, Vergewaltigungen und Kannibalismus. Mit diesen ursprünglichen Märchen spielt Coover in seinem kurzen Buch über Dornröschens Geschichten.

Die Grundgeschichte ist also klar: Dornröschen wird verflucht, sticht sich an einer Spindel, fällt in einen 100 Jahre währenden Schlaf und ein Prinz soll kommen, um sie mit einem Kuss zu erlösen.

Abwechselnd schreibt Coover aus der Sicht der Prinzessin und des Prinzen. Während ihr Geist wach ist und im Schloss umherirrt, liegt ihr Körper reglos im Bett. Sie wartet darauf, dass ihr erlösender Prinz kommt, weiß aber selbst nicht genau, wieso sie wartet. Ihr Gedächtnis ist lückenhaft und sie vergisst sehr schnell. Auch wenn sie sich zwischendurch emanzipatorisch anmutende Fragen stellt, wie warum sie eigentlich einen Prinzen braucht, um aufzuwachen, fällt sie schnell in alte Muster zurück und vertraut bedingungslos auf ein gutes Ende der Geschichte. Gesellschaft leistet ihr eine Fee, die eigentlich die böse Fee ist, aber sich selbst durchaus auch als gute Fee ansieht. Sie erzählt ihr verschiedene Geschichten von Prinzessinnen, die auf Rettung warten und allesamt enttäuscht werden oder letztendlich sterben oder andere grausame Schicksale erfahren. Durch das Erzählen dieser Geschichten sieht sich die Fee gleichzeitig auch als gute Fee, weil sie ihren „Schützling“ nicht blind in eine grausame Welt laufen lässt.

„Die Fee ist sich bewußt, daß viele ihrer Geschichten, selbst wenn sie nach ihren eigenen Maßstäben komisch sind, von Leid, von oftmals unerträglichem und ungemildertem Leid, handeln, wahrscheinlich deshalb, weil sie tatsächlich eine böse Fee ist, aber auch, weil sie im Grunde ihres Herzens (wenn sie eins hätte) eine praktisch denkende alte Frau ist, die ihr verträumtes Mündel auf mehr als nur einen schnellen Kuss und eine Hochzeitsfeier vorbereiten möchte, was also bedeutet, daß sie auch eine gute Fee ist, zumal in der Welt, aus der sie stammt, derartige Unterscheidungen einigermaßen nebelhaft ausfallen. Daher gibt es in ihren Erzählungen Kindsmord und Kindsmißhandlung, Aussetzungen, Verstümmelungen, Massenmorde und grausame Hinrichtungen und trotz dieser hübschen Themen keineswegs immer ein Happy-End.“ S. 58, Z. 12 ff

Der Naivität der Prinzessin stellt die Fee eine pessimistische Weltdarstellung entgegen, voller Karrieresucht und Egoismus. Gemeinschaft, gleichberechtigte Ehe, romantische Liebe oder ein liebevolles Miteinander sind nicht existent. Coover schafft diese ernüchternde Aussage jedoch so zu vermitteln, dass man letztendlich schmunzeln muss.

„Und dann lebten sie vergnügt bis an ihr Ende? Wie hätte das gehen sollen, der Drache war ja tot. Nein ich meine die Königstochter und der … Ach, wer weiß? Vor dem Königssohn lagen noch andere Aufgaben und andere Maiden, um die er sich kümmern mußte, schließlich und endlich wollte er sich einen Namen machen, gut möglich, meine Liebe, daß diese Maid nach wie vor dort angeschmiedet ist.“ S. 38, Z. 22 ff

Neben den Erzählungen der Fee und den Sehnsüchten der Prinzessin erfährt der Leser auch die Sicht des Prinzen. Dieser versucht sich durch die Dornenhecke zu schlagen, anfangs hoch motiviert und später an sich selbst zweifeld. Auf seinem Weg kämpft er nicht nur mit der Dornenhecke, sondern auch mit seinem inneren Selbst, seinen Ängsten, Befürchtungen, aber auch Hoffnungen und Erwartungen, die er selbst hat und die die Welt an ihn stellt. Stets schwankt er zwischen seiner Heldenhaftigkeit und dem Wunsch aufzugeben oder sich einer schönen Illusion hinzugeben bzw. sich zu opfern. Dabei ist noch nicht mal klar, ob es wirklich sein Schicksal ist, die Prinzessin zu retten. Vielleicht ist nach 100 Jahren ja eh alles vorbei und er ist nur zur rechten Zeit am rechten Ort.

Auch wenn das Buch von Coover sehr dünn ist, sind die Figuren sehr komplex und man könnte Stunden lang über sie diskutieren. Am wenigsten weiß man jedoch, wodran man bei der guten Fee ist und das macht sie so faszinierend.

„Sie ist auf schalkhafte Art ebensosehr eine Verehrerin höherer Gelehrsamkeit, eine Auslegerin und Erhellerin, der es um Wahrheit und Sittsamkeit und vor allem um Schönheit geht; ihre Geschichten sind in Wahrheit sämtliche im Reich des Verstandes angesiedelt, der Körper dient einzig und allein für komische Intermezzi. Obwohl man ihr nachsagt, sie schleppe auf dem Buckel einen Sack voller schwarzer Katzen mit sich herum und habe Spaß daran, faule Mädchen die Bäuche aufzuschlitzen und mit Schorf und Schotter vollzustopfen, zieht sie es in Wirklichkeit vor, die durch Unwissenheit und Gefühlsduselei verödeten Köpfe zu füttern, und was sie da  – leider – auf ihrem Rücke mit sich herumschleppt, ist die Last der Ewigkeit, schwer wie eine Karrenladung Kuhfladen.“ S. 37, Z. 4 ff

Fazit:
Wenn man sich in die alternierende Darstellung der Sichtweisen von Prinz und Prinzessin eingelesen hat und sich an den teilweise sehr langen hypotaktischen Satzbau gewöhnt hat, kann man tief in das Buch einsteigen und hat stundenlang etwas zum Überlegen und Diskutieren. Es ist definitiv ein Buch, das man nicht nur einfach wegliest, sondern eines das Spuren hinterlässt und etwas Hirnschmalz beansprucht. Man bekommt keine einfache Verarbeitung des Ur-Märchenstoffes, sondern eine weitergedachte Geschichte, die das Sozialleben und Rollenbilder kritisch betrachtet.

Inhaltlich ist es ein sehr spannendes Thema. Wer Märchen mag, wird mit diesem Buch zwar etwas ernüchtert, aber erhält eine gut ausgearbeitete Geschichte und einen interessanten Einblick in die Märchengeschichte. Wer auf ein Happy End hofft, wird aber leider enttäuscht. Es ist ein Buch für diejenigen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, keine Lust mehr haben zu warten und sich denken „wer braucht schon so einen Prinzen mit einem Gaul“.