August 2018

Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden von Selma Lagerlöf

Kategorie: Ein Buch über Land und Leute für Kinder sowie Erwachsene
Verlag: Edition moses, 1995 (ursprünglich 1948 bei Nymphenburger Verlagshandlung München)

 

 

 

 

Dieses Jahr haben wir Urlaub in Schweden gemacht. Logisch, dass ich dazu auch die passende Literatur mitgenommen habe. Als Erstes fällt einem zu Schweden wohl Astrid Lindgren ein. Ich habe mich aber nicht für die Geschichten von Pipi Langstrumpf oder die Abenteuer von Ronja Räubertochter entschieden und auch die Gegend um Bullerbü wollte ich mir für einen anderen Schwedenurlaub aufheben. Ich habe mich für Selma Lagerlöfs „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“ entschieden und es nicht bereut.

Kinder- oder Erwachsenenbuch?
Vor meiner Lektüre war ich fest davon überzeugt, dass es ein Kinderbuch ist. Im Prinzip ist es das auch, denn Lagerlöf soll das Buch im Auftrag des Verbands der schwedischen Volksschullehrer geschrieben haben, um Schulkindern die Landeskunde näher zu bringen. Was auch den Wechsel
zwischen märchenhafter Geschichte und geografischen, landwirtschaftlichen oder naturnahen Beschreibungen erklärt, der mich das eine oder andere Mal etwas zweifeln ließ, ob gewisse Teile des Buches wirklich für Kinder oder nicht eher für Erwachsene geschrieben sind. Die unterschiedlichen Teile des Buches wechseln sich jedoch so geschickt ab, dass gerade wenn man denken könnte, jetzt nimmt ein Teil überhand, die andere Erzählart wieder auftritt und damit das Leseinteresse am Leben
hält.

Inhalt
In dem Buch geht es um die Entwicklung von Nils Holgersson, der anfangs ein egoistischer Taugenichts ist, der seinen Eltern nur Sorge bereitet. Als er von einem Wichtelmännchen in Selbiges verwandelt wird, schämt er sich vor seine Eltern zu treten und beschließt mit dem Gänserich Martin die Wildgänse auf ihrer Reise nach Lappland zu begleiten. Während der Reise erlebt er viele Abenteuer, muss sich Gefahren stellen und auch stets moralische Entscheidungen treffen, an denen er wächst. Am Ende der Reise ist er ein mitfühlender, aufgeweckter, hilfsbereiter Junge, der sich selbst für seine Liebsten opfern würde.

Die Geschichte von Nils wird nicht durchgängig erzählt, sondern stets von Erzählungen und Sagen über das Land und die Leute Schwedens unterbrochen. Ebenso gibt es wiederkehrende Figuren wie die das Gänsemädchen Asa und ihr kleiner Bruder Mats. Die Geschwister verlieren ihre Familie durch Tuberkulose und dadurch auch ihr zu Hause. Fortan müssen sie sich alleine über Wasser halten. Mit dieser Geschichte werden auch problematische Themen der Zeit wie Armut, Hygiene, Krankheiten, Kinderarbeit und Auswanderung angesprochen.

Aufbau
Die Struktur des Buches wird durch eine Rahmengeschichte vorgegeben, die viele einzelne Episoden der Landesbeschreibung, der kulturellen Umstände und der Sagen des Landes umfasst. Der Sprachgebrauch zeigt, dass das Buch schon etwas älter ist. Es wurde 1906 erstmals herausgegeben und 1907/1908 ins Deutsche übersetzt. Durch die Rahmengeschichte sind die einzelnen Episoden zwar verbunden, es ist aber auch möglich, einzelne Kapitel ganz unabhängig voneinander zu lesen. Man kann das Buch also auch gut zwischendurch lesen oder mal nur in einen Teil reinschmökern.

Besonders schön, sind die Kapitel „Der große Schmetterling“, die Sage über die Entstehung Ölands, oder das Kapitel „Värmland und Dalsland“, das ebenfalls die Geschichte dessen Entstehung erzählt.

Durch die Charakterentwicklung von Nils während seiner Abenteuer bekommt die Geschichte einen emotionalen Ansatz. Anfangs gewinnt Nils nicht unbedingt die Sympathien des Lesers, was sich im Verlauf der Geschichte ändert, bis man letztendlich vollkommen mit Nils mitfühlt. Dabei geht die Geschichte jedoch selten in die Tiefe. Der Leser muss wenig interpretieren, sondern bekommt vom auktorialen Erzähler mitgeteilt, in welcher Gefühlslage die jeweiligen Personen sind. Bevor es jedoch zu detaillierteren Ausformulierungen kommt, bricht die Beschreibung meistens ab, was den schulischen Charakter des Buches unterstreicht und eine gewisse Direktheit bzw. Distanz des Buches zur Folge hat.

Eine rührende Geschichte wird im Kapitel „Der Jahrmarktsabend“ erzählt, in dem der Sohn sich von den strengen Regeln seines verstorbenen Vaters löst und sein Mitgefühl wiederentdeckt.

Moralischer aber ebenso gefühlsbetont hingegen ist das Kapitel „Der große Herrenhof“, das zeigt wie wichtig und erfüllend es ist sich um seine Mitmenschen zu kümmern, aber auch den Rat enthält, nicht so viel für andere zu schuften, dass man sich selbst damit schadet.

„Sooft ein Mensch in dem Bestreben, anderen Gutes zu tun, über seine Kräfte anstrengt, möchte man unwillkürlich fragen, ob er am Ende den Ring gefunden habe, und ob dieser es sei, der ihn zwingt, so zu schaffen und zu wirken, daß er sich vor der Zeit abnutzt und sein Werk unvollendet lasen muß“ (S. 363, Z. 4 ff)

Wer an Schweden denkt, hat wohl als eines der ersten Bilder die Natur im Kopf. So wird auch das Leben im Einklang mit der Natur angesprochen.

„Wenn du etwas Gutes gelernt hast, Däumling, dann bist du vielleicht jetzt nicht mehr der Ansicht, daß die Menschen allein auf der Welt herrschen sollten […] Bedenke, ihr habt ein großes Land für euch, und deshalb könntet ihr uns recht gut ein paar Schären und einige sumpfige Seen und More sowie einige öde Felsen und abgelegene Wälder überlassen, wo wir armen Tiere in Frieden leben können.“ (S. 375f)

Ein besonderes Highlight der Erzählstruktur ist der intertextuelle Teil, in dem Lagerlöf sich selbst in das Buch einbringt.

„Aber nun muß ich erzählen, wie wunderbar es sich traf, daß gerade in diesem Jahr, als Nils Holgersson mit den Wildgänsen umherzog, in Schweden eine Schriftstellerin war, die ein Buch über Schweden schreiben sollte, das den Kindern als Lesebuch in der Schule dienen könnte.“  (S. 232, Z.1 ff)

Im Verlauf des Textes erfährt der Leser Gedanken zur Entstehung des Buches, mögliches privates über ihre Kindheit und eine Huldigung an den Hof ihrer Kindheit.

Fazit
Eine wirkliche Kategorisierung des Buches ist schwierig. Es liest sich nur teilweise wie ein Kinderbuch, aber auch nicht wie ein Buch, das nur für Erwachsene geschrieben ist. Das macht das Buch jedoch zu etwas Besonderen. Durch die Aufteilung in mehrere kleine, recht unabhängige Geschichten, die verbunden sind mit der Rahmenhandlung der Reise des Nils Holgerssons ist es möglich, einzelne Kapitel ganz unabhängig voneinander zu lesen oder vorzulesen. Also, wie man möchte, eine genüssliche Lektüre in kleinen Happen für zwischendurch oder ein Genuss im Gesamten.

Wer auf sehr unterhaltsame Weise mehr über Schweden erfahren möchte, über das Land, die Leute und die Geschichte Schwedens ohne dafür gleich zu einem Sachbuch greifen zu wollen, ist hiermit sehr gut bedient. Das Buch ist nicht offen pädagogisch, aber man merkt schon, dass es erzieherische Tendenzen hat. Wer damit kein Problem hat, findet in „Nils Holgerssons Reise durch Schweden“ eine unterhaltsame Landeslektüre. Es bleibt jedoch ein Buch, das das Ziel hat, Kindern Wissen zu vermitteln. Aufgrund der vielen Sagen und des älteren Sprachgebrauchs wäre es aber besser eine gemeinsame Lektüre daraus zu machen.